Ein bunter
Querschnitt:
»In die Wildnis« | ... beschreibt die alltäglichen Strapazen, die uns die Wanderung erschwerten | |
»Herbst« | ... gibt einen Einblick in den Jahreslauf Lapplands | |
»Land der Sinne« | ... erzählt Sinnliches über die nordische Natur | |
»Kein Zurück« | ... berichtet von einer der großen Hindernisse auf unserem Weg | |
»Die Weisheit der Wildnis« | ... entführt Sie in die Welt visionärer Erkenntnisse |
Viel Spaß beim Lesen! Ich würde mich freuen, wenn Ihnen »Sjaunja - Die Weisheit der Wildnis« gefällt.
Ihr Frank Baldus
Eine Umkehr war mittlerweile nicht
mehr möglich - wir steckten einfach mittendrin! Nichts als unbesiedelte
Wildnis, große Moorebenen, Berge und Urwälder.
Die Erkenntnis,
daß ein Unfall für uns in dieser Einsamkeit unabsehbare Folgen
haben würde, versuchten wir zu verdrängen. Doch die Frage bohrte!
Es würde mindestens drei Tage dauern bis Hilfe käme, falls einer
von uns allein mit leichtem Gepäck zur nächsten Siedlung laufen
müßte.
»Stellt
euch einmal vor, jemand von uns bricht sich ein Bein. Was sollen wir dann
tun? Kommst du allein mit Kompaß und Karte zurecht, denn einer müßte
schließlich Hilfe holen?«
»Selbst
wenn wir mit der Orientierung klarkämen, wo sollten wir denn hier
Hilfe holen? Welche Siedlung oder welche Straße wäre denn in
kurzer Zeit erreichbar? Ich kann mir das beim besten Willen nicht vorstellen.«
»Wenn wirklich
etwas passieren würde, würden wir auch eine Möglichkeit
findenÖ«
»Da bist
Du aber ganz schön unrealistisch, Frank!«
Weiter ging es. Es war schier zum
Verzweifeln. Immer wieder schlugen uns die Äste ins Gesicht. Wir klammerten
uns an die Bäume und balancierten über die knorrigen Wurzeln
um die Stämme herum. Das Wurzelwerk bot uns die einzige Möglichkeit,
einigermaßen Halt für unsere Füße zu finden. Drumherum
war nichts als Wasser und Schlamm.Wie die Schlangenmenschen mußten
wir uns verrenken, um von einer Birke zum nächsten trockenen Fleck
zu gelangen, auf dem wieder eine Birke stand. Dabei war es kein Einzelfall,
daß wir uns gleichzeitig um eine weitere Birke herumhangeln mußten,
die mitten vor uns im knietiefen Sumpf stand.
Wir duckten uns
und stiegen, wir sprangen und stolperten über querliegende Baumleichen.
Wir klammerten uns an Stämmen fest und schoben uns zwischen ihnen
hindurch. Es war der reinste Wahnsinn! Doch wir waren uns ganz sicher,
daß diese Strapaze immer noch angenehmer war, als uns 100 Meter tiefer
parallel zum Berghang durch das offene Moor zu kämpfen. ...
Herbst
Bald setzte feiner Nieselregen ein,
der im Tagesverlauf immer stärker werden sollte und nicht mehr aufhörte.
Er benetzte unsere Kleidung und drang langsam aber sicher in das Gewebe
ein. Feuchte Kleidung beschleunigt das Auskühlen und so blieb uns
nichts anderes übrig, als abermals die Rucksäcke abzusetzen und
die Regenjacken herauszuholen. Ein kleiner Trost war, daß die knalligen
Farben der Nylonsachen auf unseren Fotos das triste Regengrau etwas beleben
würden.
Wir setzten noch
unsere Schirmmützen auf den Kopf und weiter ging es bergwärts.
So schnell wie
der Sommer in Lappland kommt, so schnell geht er auch wieder. Mit seinen
taghellen Nächten, den sirrenden Mückenschwärmen, dem schrillen
Ruf der Limicolen* - mit den vielen Pflanzen, die in verschwenderischer
Fülle die kurze, warme und nachthelle Zeit zum Blühen nutzen
- den herumtollenden Jungen von Polarfuchs, Bär und Luchs - mit dem
geschäftigen Biber und dem Fischotter, der auf dem Rücken im
Wasser liegt und sich die Sonne auf den Bauch scheinen läßt
- und mit den großen, weidenden Rentierherden ist der Mittsommer
in Lappland eine Zeit üppigen Lebens. Ende Mai, wenn in
Mitteleuropa schon die Freibäder geöffnet haben, sind in Lappland
die Berge oft noch tief verschneit, die Knospen der Bäume und Sträucher
harren noch der Sonnenwärme. Ganz plötzlich jedoch scheint die
Welt zu kippen, das Leben zu explodieren. In wenigen Tagen hält der
Frühling Einzug, und mit Macht zwängen sich die Blätter
aus ihren engen Hüllen, um die Wärme zu begrüßen.
Oft bereits zwei,
drei Wochen später kann man das erste Mal die Sonne an die nackte
Haut lassen - dann ist es Sommer! Nach einer weiteren Woche
kriechen die Mücken aus ihren Löchern und plagen Mensch und Tier
im Juli und August. Nur auf dem offenen Fjäll, wo stets ein leichter
Wind weht, kann man den Sommer ungestörter genießen.
Nähert sich
der August seinem Ende und wird es nachts wieder richtig dunkel, dann merkt
man bald, daß man sich am Polarkreis befindet. Der Frost überzieht
das noch kräftige Grün mit Rauhreif und auf den stehenden Gewässern
bildet sich eine erste hauchdünne Eisdecke. Eh man sich versieht ist
der Sommer vorbei, und Sàpmi kleidet sich in sein farbenprächtiges
Herbstgewand, während die Menschen am Mittelmeer noch in flirrender
Hitze stöhnen.
Jede Mücke
wird jetzt als seltener Gast begrüßt - der Sommer ist so schnell
vorbei wie er gekommen war.
Alles Lebendige
stellt sich auf den nahenden, arktischen Winter ein. Die Singschwäne,
Wildgänse und Kraniche brechen nach Süden auf, die Polarfüchse
und die Schneehühner werden langsam wieder weiß. Die Rentiere
verlassen die kalten Hochflächen und kehren in die Täler zurück,
während sich die Bären und die Biber eine dicke Fettschicht anfressen.
Dies ist eine
sehr ruhige Zeit in Lappland - wehmütig und melancholisch - wie der
letzte laue Sommerabend im Jahr. Doch für den Wanderer, der nur wenige
Tage des Jahres hier oben verbringt, ist es die schönste Zeit, denn
er braucht den eisigen Zugriff des Winters nicht zu fürchten und kann
den herbstlichen Frieden in vollen Zügen genießen. ....
In den ersten anderthalb Stunden
nach dem Aufbruch sah unsere Welt wahrhaft rosig aus! Wir gingen durch
einen Mini-Dschungel dicker Polster von dunkelrotem Hartriegel und grünen
Heidelbeersträuchern. Dazwischen - Bergen gleich, die aus dem Wald
herausragten - einzelne Felsen, deren ursprüngliches, graues Gestein
von prächtigen gelben, grünen, weißen und orangeroten Flechten
bedeckt wurde. Seit Jahrzehntausenden besiedelten sie selbst den härtesten
Stein. Sie waren so fest mit ihrem Untergrund verbunden, daß Versuche,
sie mit einem anderen Stein abzukratzen, kläglich scheiterten. Die
Sonne gab den Flechtenkrusten ein bizzarres Aussehen und hier und da glitzerten
eingelagerte, winzige Kristalle im Fels.
Oberhalb der
Baumgrenze wurde es uns so warm, daß wir die Sweater auszogen. Die
Landschaft wandelte sich, denn die Vegetation wurde deutlich spärlicher.
Nur Krähenbeeren und andere subarktische Zwergsträucher krochen
noch mit ihren Ausläufern über die dünne Bodenkrume und
trotzten dem frischen Wind, der hier unablässig wehte. An vielen Stellen
trat der blanke Fels in mächtigen Platten zutage, die das Eis der
letzten Eiszeit glatt geschmirgelt hatte. Dazwischen lagen viele ungezählte
Jahrtausende, doch die Felsplatten sahen so makellos aus, völlig ohne
Risse und Spalten, als wären seitdem erst wenige Jahre vergangen.
Das Gehen darauf war angenehm einfach.
Gestern war der Himmel noch konturlos
grau gewesen, die Landschaft darunter blaß und ohne Schatten. Heute
dagegen erschien das Land greifbar und tief. Geisterhaft eilten große,
dunkle Wolkenschatten lautlos über Wald und Fjäll. Ich blickte
in den Himmel und sah eine ganz andere Landschaft dort oben!
Wie mächtige
Eisberge, die aus einem blauen Ozean ragten, schwebten die Wolken über
Lappland. Es gab steile Zinnen, tiefe Täler und weite Ebenen. Dunkle
Höhleneingänge entstanden und vergingen. Gleißende, weiße
Flächen hoben sich von bläulich schimmernden Hügeln ab.
Nirgendwo habe ich die Wolken je so plastisch gesehen, ist die Luft so
glasklar wie hier oben in der Nordkalotte! Nirgendwo sonst habe ich mich
dem Ursprung der Dinge je näher gefühlt!
Man bekam das Gefühl, leicht
wie ein Adler fliegen zu können, höher und immer höher zu
schweben und hinunterzuschauen auf ganz Lappland. ...
Kurz darauf änderten sich die
Verhältnisse radikal. Wir traten aus dem Wald und vor uns lag ein
ausgedehntes Blockmarkfeld mit riesigen Felsen, die so chaotisch aufeinanderlagen,
daß tiefe Spalten und Klüfte, hohe Felswände und scharfe
Grate in einer unglaublichen Vielfalt entstanden waren.
»Oh Mann!
Sieht verdammt rutschig aus, diese Angelegenheit.«
»Ich würde
eher sagen mörderisch! Solch ein Blockfeld habe ich noch auf keiner
Bergwanderung gesehen. Das ist ja unglaublich!«
Mit behutsamen,
fast ängstlichen Schritten betraten wir das Felsenlabyrinth. Skepsis
lag in unseren Gesichtern, als wir den ersten Felsen erklommen.
Wir kamen uns
vor wie die Ameisen in einer Kiesgrube, denn die Steinblöcke maßen
zwei bis drei Meter -, manche bis zu fünf Meter im Durchmesser.
»Na kommt!
Da hinten sieht man schon das Ende des Steinfeldes.«
»Bei einer
herkömmlichen Blockmark wäre ich auch deiner Meinung. Aber solche
Steine habe ich noch nie gesehen. Für die paar Meter brauchen wir
bestimmt eine halbe Stunde!«
»Laßt
es uns halt versuchen, oder wollt ihr lieber hierbleiben?«
Das Balancieren
mit den schweren Rucksäcken machte die Überquerung sehr riskant
und wir mußten ständig alle fünf Sinne beisammen haben,
um nicht abzurutschen.
Wie lange mochten
diese Felsen schon hier liegen? Am Grunde der tiefen Klüfte hatte
sich die Krume angesammelt, die seit Urzeiten von dem glatten Granit heruntergerutscht
war. Dort fristeten ein paar kümmerliche Pflanzen ein ewiges Schattendasein.
Nur ganz vereinzelt hatte es eine Birke geschafft, mitten zwischen den
Steinen Wurzeln zu schlagen und das Licht zu erreichen. Ansonsten lebten
in dieser Ödnis nur die Algen, Flechten und flache Moose, die die
Felsen in großer Zahl besiedelten und phantastische Muster bildeten.
Diese lebenden
Krusten sind in der Lage, für lange Trockenzeiten Wasser zu speichern.
Für uns barg diese Fähigkeit die dauernde Gefahr, darauf auszurutschen.
»Paß
bloß auf, wohin du trittst! Ich kann das nicht mit ansehen, wie du
über die Steine hüpfst. Geh doch besser durch die Spalten!«
»Mach dir
keine Sorgen um mich. Ich paß schon auf - versprochen!«
»Martin!
Alles klar?«
»Na ja,
geht so. Wir sollten extrem vorsichtig sein. Ein Fehltritt und wir klemmen
in solch einer Spalte festÖ Wo ist Sabine denn jetzt?«
»Hier bin
ich!«
Sie tauchte hinter
einem riesigen Findling auf, die Füße seitwärts in einer
schmalen Ritze und mit den Händen am Felsen tastend. In dieser Lage
war nichts mehr zu sehen von ihrem sonst so ansteckenden Lächeln.
»Wie weit
ist es noch?«
»Ich würde
sagen, etwa 20 Meter, dann haben wir es geschafft.«
Nur durch gegenseitige
Hilfe konnten wir die Situation bestehen, ständig auf der Suche nach
ungefährlicheren Passagen. Mehr als einmal gerieten wir in eine Sackgasse
und mußten uns einen besseren Weg suchen. Wir zogen uns regelrecht
gegenseitig von Stein zu Stein!
... Ob es Tieren in solch einer Situation
auch so dreckig gehen kann, oder ob sie das einfach so hinnehmen? Ein reiches
Gefühlsleben und ein geistiges Erleben haben höhere Tiere sicher
auch. Allerdings kennen sie keinen Zeitdruck und sie begeben sich wahrscheinlich
nicht aus so nutzlosen Erwägungen wie wir in solch gefährliche
Regionen. Mir kam der Gedanke, daß es möglicherweise mehr Nachteile
als Vorteile haben könnte, ein Mensch zu sein. Worüber zerbricht
man sich nicht alles den Kopf!? Krankheiten, Ärger, Liebeskummer,
Sorgen aller Art und dazu kommt noch, daß die meisten Probleme
nicht einmal fremdbestimmt sind, sondern selbstgemacht! Man muß ja
nicht so einen teuren Wagen fahren wie der Vorgesetzte. Man braucht ja
nicht unbedingt den Dingen nachjagen, die man gerade nicht haben kann und
schließlich hat auch uns niemand gezwungen, diese Reise zu unternehmen.
Tja, und doch halten sich die Menschen für die Krone der Schöpfung.
Irgendetwas kann doch da nicht stimmen?! Ich fühlte mich im Moment
jedenfalls eher wie ein winziger Wurm denn wie ein Homo sapiens.
- Mist! Schon
wieder gestolpert. - Ich sollte mich mal mehr auf den Boden vor mir konzentrieren.
Stunde um Stunde
verging, ohne daß sich die Verhältnisse änderten. Ein Fels
türmte sich auf dem anderen, ein Wäldchen löste die nächste
Blockmarkstrecke ab. Unsere Nerven waren bis auf das Äußerste
gespannt, unsere Muskeln zitterten von der ungewohnten Verkrampfung, die
das Klettern mit sich brachte. Jeder Schritt konnte zuviel sein, konnte
zu einem Unfall führen. Immer wieder glitt ein Fuß ab, immer
wieder bewegten wir uns gefährlich nah an jähen Abgründen.
Das Gewicht der Rucksäcke schien unaufhörlich zuzunehmen, wenn
wir in die Knie gehen mußten oder auf allen Vieren über einer
Kluft hingen.
Wir tasteten
uns voran und prüften mit den Blicken, erfühlten den nächsten
Stein, der hinter einem gigantischen Felsen verborgen sein mochte und suchten
Halt, wo kein Halt war.
Ein Alptraum konnte nicht schlimmer
sein. Doch hier gab es kein Erwachen, kein Aufatmen, keine Erleichterung
- nur die nackte Realität einer Urzeitlandschaft, die uns gefangen
hielt. Eine Laune der Natur, unbeweglich und unangreifbar. Zeugen der Vergangenheit,
die unsere Gegenwart verhöhnten. ...
Ich saß auf einem großen
Stein, die Knie an die Brust gezogen, blickte in die Ferne und verfiel
in Tagträume.
Plötzlich
brach ein Loch in die schwarzen Wolken und einige warme Sonnenstrahlen
erhellten ein Moor in der Ebene unter mir. Der Anblick war mystisch - fast
schon überirdisch. Gedanken über Gedanken gingen
mir nun durch den Kopf; den Blick auf den roten Himmel gerichtet.
Obwohl es schon lange her war, seit
ich mich das letztemal ernsthaft mit philosophischen Überlegungen
beschäftigt hatte, erschien plötzlich und unerwartet eine Vision
ganz deutlich vor meinem inneren Auge.
Auf unbekannte
Weise schienen die existentiellen Erlebnisse der letzten Tage tief in meinem
Innersten etwas ausgelöst zu haben. Der wilde Fluß meiner Gedanken
mündete in einen tiefen und ruhigen See.
Phantastisch, dieser Blick in die glutrote Ferne! ... Ich lächelte. Meine Sinne gaukelten mir ein materiell geschaffenes Außen vor. Mein Inneres reflektierte das Außen wie ein Spiegel und mein Gehirn machte daraus ein scheinbar perfektes Welterleben. In diesem Moment erkannte es seinen eigenen Ursprung ...
Doch Worte und Gedanken sind nur Produkte und Hilfsmittel unserer diesseitigen Existenz und dienen ausschließlich dazu, unser Leben auf der Erde zu sichern. - Dieses Leben, das in jeder nur denkbaren Weise begrenzt ist; von Geburt und Tod, Raum und Zeit, oben und unten.
Die Wildnis hatte mein Weltbild aus
vielen Fragmenten zu einem einheitlichen Ganzen zusammengefügt. Und
sie hatte mir klar gemacht, daß die Antworten auf die großen
Fragen der Menschheit in allen Köpfen bereits angelegt sind, und nicht
nur durch eine Religion oder durch wissenschaftliche Erkenntnisse in das
Bewußtsein gelangen können. In jedem Menschen ist das gesamte
Universum enthalten, mitsamt den Antworten! Sjaunja - Die Weisheit
der Wildnis!
Ende