Ist der Mensch gut oder böse?
Von Natur aus ist der Mensch gut, glauben die Taoisten. Das Böse
entsteht nur durch mangelnde Einsicht in die Gesetzmäßigkeiten
der Welt [149]. Je mehr sich der
Mensch von seiner natürlichen, kindlichen Gesinnung entfernt, je mehr
er verändert, desto unharmonischer werden seine Ansichten und Handlungen.
Um sich den ursprünglichen Zustand zu bewahren, ist der Mensch gehalten,
sein Leben der großen Harmonie im Fluß der Zeit anzupassen,
um mit den natürlichen Veränderungen mitzugehen und mit dem Sinn
der Welt eins zu werden [150] - auch
dieses »Mitgehen« steckt in dem Wort Tao. Hier ähnelt
der Taoismus den Weltanschauungen der nordamerikanischen Indianer.
Können wir unser Handeln frei bestimmen?
Schicksal und Freiheit werden nach chinesischer Auffassung auch als
Ge genspieler angesehen werden, die sich gegenseitig erzeugen. So ist unser
Schicksal die unumgängliche Einbindung in das Gesetz des Tao mit der
Freiheit, es zu erkennen - oder nicht zu erkennen - und dementsprechend
zu handeln. So gesehen haben wir das Schicksal, gut zu sein, aber die Freiheit,
gut oder böse zu sein.
Können wir die Welt oder die Menschen ändern?
Im Rahmen unserer Freiheit können wir die Welt ändern, jedoch
ist die Gefahr groß, dass das Ergebnis nicht gut ist. Klüger
ist für den Taoisten der Mensch, der mit dem Lauf der Dinge mitgeht
wie ein junger Baum im Sturm und der nicht versucht, zu sehr in diesen
Lauf einzugreifen. Diese Haltung des passiven »Nicht-Handelns«
wird Wu-Wei genannt.
Wenn ja: Wie können wir etwas verändern?
Hier stehen uns alle Möglichkeiten offen, die wir jemals erfinden
können. Die taoistische Lehre setzt unseren Fähigkeiten keine
Grenzen. Sie rät uns nur, diese Fähigkeiten vorsichtig einzusetzen.
Dennoch wird der Verstand hoch geschätzt, wie man z.B. unschwer an
den Erfolgen traditioneller chinesischer Medizin erkennen kann, die dem
Taoismus seit jeher nahesteht.
Die Meditation, die im Buddhismus eine eine große
Rolle auf dem Weg zu Erleuchtung spielt, wird von Taoisten weitaus zwangloser
gesehen. Da jede extreme Handlung die Harmonie der Gegensätze stört,
meditiert man nur solange es dem Wohlbefinden nicht schadet. Der Taoist
glaubt, dass die letzte Erkenntnis
nicht nur durch geistige Versenkung zu erlangen ist, sondern sich automatisch
einstellt, wenn man bemüht ist, in wahrer Harmonie mit dem Lauf der
Welt zu leben [151].
Gibt es eine richtige Art zu leben?
Der Taoist vertraut auf die Richtigkeit seiner natürlichen Veranlagungen,
die man nicht künstlich unterdrücken oder verändern soll
[152]. Die Moralbegriffe des Taoismus
sind nicht als Gebote oder Gesetze formuliert. Moralisch richtiges Handeln
entsteht automatisch durch den Versuch, dem Lauf der Dinge harmonisch zu
folgen und die Gegensätze auszusöhnen. So heißt es im Tao-Te-King
des LAO-TSE
oftmals: »Der Berufene macht daher dies oder jenes« ...
weil er einfach nur dem natürlichen Lauf der Dinge folgt, ohne ihn
verändern zu wollen.
Was können wir über die Zukunft wissen?
Die taoistische Lehre ist eine sachliche Philosophie und geht daher
sehr sparsam mit Aussagen über die Zukunft um. Das Nachher ist der
Gegenspieler zum Vorher und wer vorher ein guter Mensch war, der kann sicher
sein, das sich dies positiv auf das Nachher auswirken wird. Trotzdem ist
der Lauf der Dinge nicht vorhersagbar, denn was benannt werden kann, ist
nicht das Tao...
Der Lauf der Dinge kann sich unerwartet ändern
wie die Richtung, aus der der Wind weht. Es kommt nur darauf an, sich mit
dem Wind zu drehen und alles ist gut. Der Taoismus kennt keine fest umrissene
Wiedergeburtslehre wie der Buddhismus. Er beeinhaltet jedoch die Vorstellung,
dass Geburt und Tod nur gegensätzliche Erscheinungen in der menschlichen
Vorstellung sind, die über das wahre ewige Leben hinwegtäuschen.
Kritische Fragen
Wie ich erwartet hatte, hatten die Ranger vom Taoismus vorher noch
nie etwas gehört. Yin und Yang waren zwar bekannte Begriffe, aber
wohl eher als »esoterische Leihgabe«. Nachdem Anna »ihre«
Weltsicht den Konferenzteilnehmern vorgestellt hatte, dauerte es eine Weile,
bis die chinesischen Begriffe richtig einsortiert werden konnten. Ich hatte
den Eindruck, diese so ungreifbaren Ausdrücke seien Grund genug, den
Taoismus abzuwerten... Doch weit gefehlt! Zu meinem großen Erstaunen
war das Urteil der Ranger durchweg positiv - sie waren sichtbar angetan
von der chinesischen Gedankenwelt. Es schien allen sehr stimmig zu sein,
logisch und gut durchdacht, nachvollziehbar, anschaulich, weitsichtig und
durchaus auch auf die moderne Welt passend. Fast alle Ranger konnten sich
in dieser Weltsicht gut wiederfinden.
So blieben nur einige wenige kritische Fragen übrig:
-
Sind T´ai-Chi, Li, Wu-Chi oder Tao nicht Begriffe, die von westlichen
Durchschnittsmenschen nur schwer verstanden werden?
-
Lässt die taoistische Lehre ihren Anhängern nicht zuviel Raum
für ihre Freiheit
im Denken und Handeln? Wer kann wirklich selbst entscheiden, ob sein Handeln
der Harmonie des Tao entspricht? Läuft man nicht Gefahr, dass Fehlentwicklungen
in der Gesellschaft unkritisch gebilligt werden, weil es dem »Lauf
der Dinge« zu entsprechen scheint?
-
Kann die Lehre des Tao Hoffnung im Leben machen, also zu Trost und Seelenheil
führen? Ist diese Weltanschauung demnach als Heilslehre geeignet?
Wir mussten bei den Aussagen der taoistischen Gelehrten unweigerlich an
einige Vorfahren unserer europäischen Traditionen denken, die zu ähnlichen
Gedanken gekommen waren und alles »Himmlische« in die Welt
der Phantasie verwiesen hatten. Wer fällt Ihnen da ein? Nietzsche?
Thales? Oder gar Marx? Jedenfalls bringen uns diese Überlegungen zu
unserem nächstes Reiseziel:
EUROPA
Vor uns liegt eine sehr lange Reise durch die Weiten Asiens gen Westen.
Wir nutzen die Zeit, um über das Erlebte nachzudenken, vergleichen
die Weisheiten, die wir kennengelernt haben, und schlafen schließlich
ziemlich erschöpft ein.
Zitate
149 = [GLASENAPP
/ Lit. 1, Seite 176] ... Der konfuzianischen (Anm.: und taoistischen)
Ethik liegt der Gedanke zugrunde, daß der Mensch von Natur aus gut
ist und daß alles Böse an ihm durch mangelnde Einsicht entstanden
ist. ...
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150 = [WATTS
/ Lit. 1, Seite 39] ... Die uralte Philosophie des Tao (besteht)
darin, dem Lauf, der Strömung, dem »Strich« der Naturphänomene
geschickt und intelligent zu folgen und das menschliche Leben als einen
integralen Bestandteil des ganzen Weltprozesses zu sehen, nicht als etwas
Fremdes, ihm Entgegengesetztes. ...
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151 = [WATTS
/ Lit. 1, Seite 132 - 134] ... Was sollen wir also von der ... Tradition
der Meditationsübungen ... halten, deren angebliches Ziel das kosmische
Bewußtsein oder übernatürliche Kräfte sind? ... Wenn
wir uns an die frühen Ch´an-Schriften ... halten..., steht wohl
außer Frage, daß die frühen Ch´an-Lehrer ... den
Meditationsübungen nicht nur keinen besonderen Wert beimaßen,
sondern sie oft als irrelevant abtaten. ... - als ob der Wert einer Inspiration
oder Intuition nach dem rein quantitativen Maß der dafür aufgewendeten
Zeit und Energie beurteilt werden könnte. Wie lange braucht ein Kind,
um zu wissen ,daß Feuer heiß ist? ... Taoisten werden gern
mit Yogis oder Zen-Anhängern sitzen (Anm.: meditieren), solange
sie es vernünftig und angenehm finden... Taoisten betrachten die Meditation
nicht als »Übung« außer in dem Sinn, wie ein Arzt
die Medizin »ausübt«. Es liegt ihnen fern, das Universum
durch Gewalt oder Willenskraft unterwerfen oder verändern zu wollen,
...
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152 = [WATTS
/ Lit. 1, Seite 171] ... Die Sinne, Gefühle und Gedanken müssen
sich spontan äußern dürfen (..) im Vertrauen darauf, daß
sie sich dann harmonisch ordnen werden. Der Versuch, das Gemüt mit
Gewalt zu kontrollieren, ist so, als wollte man Wellen mit einem Brett
glätten, und kann nur noch mehr Aufruhr zur Folge haben. ...
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