Wo wohnen die Menschen, deren Antworten wir gesucht haben?
Zum Beispiel
in Wuppertal, einer ganz normalen Stadt in Nordrhein-Westfalen
Unser erster Schritt zu einem besseren Verständnis des menschlichen
Verhaltens war der Versuch, Antworten auf unsere sieben
Lebensfragen zu formulieren, so wie wir es schon bei der Reise zu den
Weltanschauungen gemacht hatten. Diesesmal war jedoch keine Reise notwendig,
denn wir suchten Antworten, wie sie ganz gewöhnliche Menschen irgendwo
in einem westlichen Industrieland gegeben hätten.
Dazu trugen wir die Erfahrungen zusammen, die unsere
Ranger tagtäglich in ihrem Schülerleben machen, griffen Eindrücke
aus dem Fernsehen und dem Umfeld auf, sichteten unsere umfangreiche Sammlung
einschlägiger Artikel aus der Zeitschrift »Die WOCHE«
und diskutierten ausführlich über die Gewichtung und Ausformulierung
der folgenden Aussagen.
Was können wir über die Welt wissen?
Wenn man die Erfolge des technologischen
Fortschritts betrachtet und die täglichen Nachrichten verfolgt, kann
man wahrscheinlich davon ausgehen, dass die meisten Menschen in den Industrieländern
den Erkenntnissen der Wissenschaften vertrauen [1].
Aufgrund der modernen Schulbildung sollte man davon ausgehen können,
dass sie zudem eine gewisse Vorstellung vom Urknall, von der Atomstruktur
der Stoffe und von der Evolution der Lebewesen haben. Dieses Wissen
wird in der Schule als kleiner, unvollständiger und in der Regel stark
vereinfachter Teil des gesamten Wissens erworben [2].
Allerdings ist die Beschäftigung mit anderen Themen nach der Schulzeit
unvermeidbar so groß, dass sich die meisten Erwachsenen sicherlich
kaum noch mit allgemeinen naturwissenschaftlichen Fragen auseinandersetzen.
Auch wenn im Fernsehen und in manchen Zeitungen immer wieder Sachthemen
interessant aufbereitet vermittelt werden, sind die Darstellungen nach
Auffassung der Cronenberger Ranger in aller Regel zu vereinfacht, zu sehr
auf Bildeffekte ausgerichtet und viel zu gerafft, um daraus umfassend und
nachhaltig lernen zu können.
Hinzu kommt, dass das gesamte Wissen unserer Zeit
so vielfältig und kompliziert geworden ist, dass nur sehr wenige Menschen
- unter großem Aufwand - einen »Durchblick« behalten
können.
Kaum anders ist es mit der Religion. Sie wird -
für jeden leicht erkennbar - immer mehr aus dem Alltag verdrängt
und beschränkt sich häufig nur noch auf den Kirchenbesuch an
Feiertagen und bei Familienereignissen.
Die Auseinandersetzung mit religiösen oder
philosophischen Fragen wird ebenso häufig auf einem lückenhaften
Wissen beruhen, wenn man die Bildungsschwerpunkte und Interessen der Mehrheit
einmal unter die Lupe nimmt. Oft genug haben wir erfahren, dass es gar
als unnützes Gerede verpönt wird, wenn jemand über solche
Dinge laut nachdenkt [3]. Dennoch glauben
nach der Statistik immer noch viele Menschen an einen Gott, teils aus Überlieferung,
teils aus Mangel an besserem Wissen, teils aus blanker Hoffnung auf Erlösung
von den irdischem Leiden.
Daneben macht die »religiöse Leere«
Platz für einen unkontrollierten Wildwuchs an allerhand abergläubischen
Vorstellungen, häufig gefördert durch eine zweifelhafte Berichterstattung
in den Medien: Horoskope, Fernseh-Wahrsager und Co. lassen grüßen.
Ist der Mensch gut oder böse?
Auf diese Frage lässt sich für
den heutigen Menschen kaum eine verallgemeinerte Antwort finden, denn jeder
wird in dieser Hinsicht als Einzelperson beurteilt und jeder kann selbst
entscheiden, wie er das beurteilt. Eine vorgegebene Ausrichtung vom guten
oder bösen Menschen an sich wird wohl nicht mehr angenommen, da keine
gemeinschaftliche Weltanschauung oder Morallehre
mehr existiert.
Die umfangreiche Regelung des Lebens durch verbindliche
Gesetze hat der Frage in den Rechtsstaaten ihre einstige Bedeutung genommen.
Ob eine bestimmte Person gut oder böse gehandelt hat, misst die Öffentlichkeit
häu fig anhand der Rechtssprechung in veröffentlichten Strafverfahren.
Sobald sich Angehörige bestimmter Gruppierungen
jedoch offen zu einer Weltanschauung bekennen und durch bestimmte Merkmale
von der Durchschnittsgesellschaft abweichen, kommt es leider immer wieder
zur Abwertung und Verunglimpfung solcher Menschen. So entstehen hartnäckige
Vorurteile gegenüber Juden, Moslems, Jugendlichen, Alternativen und
vielen anderen, die im Aussehen oder Verhalten nicht der Norm entsprechen.
Die Wertschätzung der »modernen« Menschen untereinander
ist also auch heute noch von solchen schlichten Verhaltensmustern geprägt,
um die eigene »Stammes-Zugehörigkeit« von anderen abzugrenzen.
Können wir unser Handeln frei bestimmen?
Dies wird von den meisten Menschen sicherlich
mit einem eindeutigen »Ja« beantwortet werden. Frei nach dem
Motto: Tu, was Du willst...
Nach unserer Auffassung ist das jedoch eine vordergründige
Einschätzung. Die vielfältigen Verflechtungen der heutigen Gesellschaft
mit ihren Sach- und Fremdzwängen lässt uns nur wenig Spielraum
für ein wahrhaft freies Handeln und Gestalten des Lebens! Der Eindruck
von Freiheit wird uns vor allem von der Werbung eingeredet. So haben wir
zum Beispiel die Freiheit, zwischen hunderten verschiedener Automarken
zu wählen; aber die Freiheit, auf ein Auto ganz zu verzichten, ist
erheblich eingeschränkt.
Lediglich in Bezug auf die Frage »Gibt es
ein unumstößliches Schicksal?« werden wohl die meisten
eindeutig antworten, dass der Mensch sein Handeln im Prinzip frei bestimmen
kann.
Können wir die Welt oder die Menschen ändern?
Auf die ganze Menschheit bezogen wird hier
die Antwort ein klares »Ja« sein: Kaum etwas ist heute so gegenwärtig
wie die alltägliche, menschengemachte Veränderung der Welt um
uns herum.
Auf den Menschen bezogen fallen die Antworten dagegen
unterschiedlich aus. Der Pessimist geht davon aus, dass der Mensch - das
heißt, seine schlechten Eigenschaften - nicht geändert werden
kann. Der Optimist sieht Hoffnung trotz aller Probleme, die unsere heutige
Welt kennzeichnen, und der Realist sieht die Möglichkeit zur Änderung
in langen Zeiträumen.
Die starke Arbeitsteilung und Spezialisierung, sowie
die große Anzahl der Menschen bewirkt überdies, dass der Einzelne
in der Regel nicht in der La ge ist, spürbare Veränderungen herbeizuführen.
Dies wird in dem vielfach geäußerten Gefühl von Machtlosigkeit
und Misstrauen gegenüber dem Staat und der Gesellschaft sichtbar.
Wenn ja: Wie können wir etwas verändern?
Hier vertraut der heutige Mensch in erster
Linie auf Wissenschaft und Technik. Sie waren es, die uns Wohlstand, Gesundheit
und Sicherheit gebracht haben - aber auch die weltweiten Probleme, denen
wir heute gegenüberstehen. Dennoch werden auch sie es nach der vorherrschenden
Technikgläubigkeit sein, die unsere Probleme lösen und die Welt
und vielleicht den Menschen zum noch
besseren verändern [4].
Auf den Einzelnen bezogen ist die Möglichkeit
in unserer Massengesellschaft etwas zu verändern jedoch sehr eingeschränkt.
Das macht sich besonders bei den Menschen bemerkbar, die am unteren Ende
der Wohlstandsgesellschaft auf fremde Zuwendungen angewiesen sind. Hier
lebt ein Millionenheer, das nicht einmal mehr in der Lage ist, für
sich selbst bessere Umstände zu schaffen. (Zu einem großen Teil
ist sicher der Sozialstaat dafür verantwortlich, da er durch falsche
Anreize die Eigenverantwortung und die Verantwortung für Gesellschaft
und Umwelt eindeutig verringert.)
Gibt es eine richtige Art zu leben?
Wie viele verschiedene Antworten mag man
heute auf diese Frage finden? Die Zeiten, in denen die Menschen einer Kulturgruppe
nach sehr ähnlichen Vorstellungen lebten, sind schon lange vorbei.
Die modernen Lebensstile folgen eher wechselnden Trends und schwanken wie
die Börsenkurse.
In den Jahren des Aufbaus nach dem zweiten Weltkrieg
galt es als richtig, sich mit seiner ganzen Kraft auf die Verbesserung
der materiellen Bedürfnisse zu stürzen und immer reicher zu werden.
In den Sechzigern besannen sich einige Menschen auf die Natürlichkeit
und ihre Gefühle; die Dinge des Alltages verloren dabei an Bedeutung.
In den Siebzigern folgten immer mehr Menschen den Warnungen der grünen
Bewegung, die durch die Energiekrise und verschiedene Chemieunfälle
genährt wurden. ... So war einmal das Eine richtig und einmal das
Andere.
Heute erscheint vor allem der ungetrübte Lebensgenuss
- Medien, Mode, Freizeit - ein Leitbild für das richtige
Leben zu sein [5].
Wahrscheinlich gibt es keine tiefschürfendere
Antwort mehr auf diese Frage. Die Menschen finden keine Ruhe mehr, danach
zu suchen, und sind zu beschäftigt und zu verunsichert durch die Nachrichtenflut
in den Medien. Kaum jemand wagt mehr einzuschätzen, was wirklich richtig
sein könnte.
Die Massenkultur vernichtet zunehmend alternative
Lebensentwürfe und führt zu einer ausufernden Wertevielfalt,
die es kaum noch ermöglicht, darin die
richtigen Werte
zu erkennen. So verfallen die meisten Menschen dem wahllosen und bequemen
Griff in die »große bunte Konsumkiste«.
Was können wir über die Zukunft wissen?
Seit man die Unsicherheiten bei der Wetter-Vorhersage
oder bei den Schwankungen der Aktienkurse kennt, wird wohl kaum noch jemand
an ein vorherbestimmtes Schicksal glauben. Die meisten Menschen werden
im Sinne des Fortschritts an ihre Freiheit
zur Selbst- oder Umgestaltung der Welt glauben. Dies kann jedoch auch zur
Folge haben, dass mahnende Vorhersagen nicht ernst genommen werden. Das
Vertrauen in den menschlichen Verstand scheint recht groß zu sein
- das Gefühl der eigenen Verantwortlichkeit wird von der Konsumgesellschaft
dagegen kaum gefördert.
Es ist natürlich schwierig zu beurteilen, wie
weit das Verantwortungsgefühl der Menschen geht. Wir nehmen jedoch
an, dass eine umfassende Verantwortlichkeit für nachkommende Generationen
- also über den eigenen Tod hinaus - von vielen Zeitgenossen als weltfremd
eingestuft würde.
Der Materialismus unserer Kultur und die Bewertung
aller Dinge in Geld macht es leicht, die finanzielle Absicherung der Nachkommen
als ausreichend anzusehen. Darüberhinaus macht sich wohl kaum jemand
Gedanken, denn im Gegensatz zu jahrtausendealten Glaubenssätzen wird
das Leben in unserer Gesellschaft als einzigartig dargestellt und ist damit
durch den Tod endgültig beendet. Insofern ist der Satz »Nach
mir die Sintflut« leider mehr als nur ein Sprichwort.
Wie uns sehr schnell auffiel, ist für die Einschätzung der
modernen Weltanschauung noch mehr notwendig als nur die Beantwortung der
sieben Lebensfragen. Auch - oder gerade wegen - der alltäglichen Normalität
unseres Lebens muss man Abstand gewinnen, um unsere Kultur unvoreingenommen
betrachten zu können. Ist sie die einzig richtige oder mögliche
Lebensweise? Ist die heutige Welt ohne Alternativen? Was genau unterscheidet
unser Lebensmodell von anderen?
Zitate
1 = [GOLDSMITH
/ Lit. 1, Seite 416 - 417] ... Der moderne Mensch interpretiert ... Probleme
durch Ursache- Wirkungsbeziehungen. ... So legen wir unser Vertrauen in
wissenschaftliche, technologische und industrielle Entwicklung oder Fortschritt
- genau in das, was unsere Gesellschaftsorganisation bereitzustellen vermag.
... Es wird immer den Interessen der Industriellen und ihren Politikergenossen
dienen, ...
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2 = [FREESE
/ Lit. 1, Seite 78 - 79] ... In gewisser Hinsicht sind ... Schulen ...
Produktionsstätten von Halbbildung, die sprichwörtlich gefährlicher
ist als keine Bildung. ... Wie sehr schon zehnjährige Schüler
dem Wahn erlegen sind, die Naturwissenschaften hielten auf alle schwierigen
Fragen letzte Antworten bereit, davon habe ich in meinen Philosophiestunden
mit Kindern eindrucksvolle Beweise erlebt. ... faßt läßt
sich von einem verbreiteten Aberglauben an die Allmacht der Wissenschaft
sprechen. ..., das, was in der Schule bisweilen an Wissen vermittelt wird,
(leidet)
nicht nur unter der Vereinfachung und Verkürzung ..., sondern (stellt)
schlichtweg
einen überholten Stand
(dar)...
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Text
3 = [FREESE
zitiert Scheffler - dt. Dichter / Seite 17] ... Schon die ... unserer Kultur
tiefeingefleischte Idee, Verstand und Gefühl schlössen einander
aus, scheint mir lebensfeindlich. »Sie verbiegt alles, was sie berührt.
Sie mechanisiert die Wissenschaft, sentimentalisiert die Kunst und stellt
Ethik und Religion als Zwillingsbrüder des Gefühls und gedankenloser
Hingabe hin; ... gefühlloses Wissen und hirnlose Erregung...
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4 = [WEIZSÄCKER
/ Lit. 1, Seite 277 / 280] ... auch Treibhauseffekt und Artenvielfalt werden
von vielen lediglich als Herausforderung für die Technik angesehen.
Um die Artenvielfalt zu sichern, müßte man nur genügend
Genbanken anlegen ... Und für das Klimaproblem, ... (genüge)
die Technologie der CO2-Absorption
sowie der Kernkraft, der Fusionsenergie oder der satellitengestützten
Solarenergie. ... / ... (Solche) High-Tech-Träume haben oft
den Zweck, das Klima für die Finanzierung von großen Forschungsvorhaben
zu schaffen. ...
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5 = [ABOSCH
/ Lit. 1, Seite 126] ... der Hang zu genießen ... (wird)
übergroß. Auch die Neigung, darüber hinwegzusehen, mit
welchen Kosten der Wohlstand erkauft wird: Beschädigung der Natur
..., Raubbau an den Rohstoffreserven, Zerstörung fremder Zivilisationen.
Dies alles ... wird unmittelbaren Bedürfnissen geopfert, ohne die
Folgen zu bedenken... Nichts Unangenehmes sehen noch hören noch denken:
diese Moral entspricht der wollüstig genießenden Konsumgesellschaft.
Nur keine Trübung des Lebensgenusses empfiehlt die Verkaufswerbung,
und diese für die Konsumenten gültige Maßregel wird zum
höchsten moralischen Prinzip. Die alle Klassen prägende Massenkultur
hat sich vollends durchgesetzt; Medien, Sitten, Freizeit vereinen alle
Schichten. Es gibt Außenseiter, ... die dem Trend widerstehen. Aber
es ist eine Minderheit ...
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